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Iannis Xenakis: Kosmische Stadt, Zeichnung aus der Vogelperspektive, ca. 1964 • Foto © Famille I Xenakis DR

RÉVOLUTIONS XENAKIS. DIE XENAKIS-RETROSPEKTIVE IN DER PARISER PHILHARMONIE

Die Xenakis-Retrospektive in der Pariser Philharmonie schafft die Würdigung eines Universalkünstlers. Exhibition review with many notes on Iannis Xenakis which Maike Aden wrote for: VAN-MAGAZIN #336

 

Zur Feier des einhundertsten Geburtstags von Iannis Xenakis widmet ihm die Pariser Philharmonie die Retrospektive Révolutions Xenakis. Sie ist das Ergebnis einer zweijährigen Zusammenarbeit zwischen der bildenden Künstlerin Mâkhi Xenakis, die das Archiv ihres Vaters aufarbeitet, und dem Musikwissenschaftler Thierry Maniguet, dem wissenschaftlichen Leiter der Sammlung des Musikmuseums der Philharmonie. Die beiden haben eine Ausstellung kuratiert, die ein vollständiges Eintauchen in Xenakis‘ Werk erlaubt, ohne die biographischen, politischen, utopischen, humanen und technologisch-mathematischen Dimensionen der multidisziplinären Projekte Xenakis‘ zu vernachlässigen. »Er war Ingenieur, Architekt, Komponist, Mathematiker, Informatiker und Computerfreak«, so Mâkhi Xenakis. »Wir wollten zeigen, dass er nie erst das eine und dann das andere oder das eine ohne das andere war.« Herausgekommen ist eine Hommage, die eine unwiderstehliche Energie versprüht. Sie dürfte nicht nur höfliche Ehrerbietung distinguierter Avantgardeapologeten erfahren, sondern auch ein breites Publikum faszinieren.

Die Eingangstür passierend, erhebt sich eine bis an die Decke reichende Skulptur aus schlanken, weißen Stelen vor dem ganz in Schwarz getauchten Ausstellungssaal, die an eine der typischen Konstruktionszeichnungen Xenakis‘ denken lässt. Während man noch überlegt, ob man diese dekorative Transformation mag, ergreifen einen sich überall im Raum bewegende Klänge. Rhythmische Blitzlichtwellen von der Decke intensivieren die aufgewühlte Energie.

Gespielt wird ein Auszug aus La Légende d’Eer, ein intensives, dichtes Werk der elektroakustischen Musik, das Xenakis 1977 in dem von ihm gegründeten Pariser Centre d’Etudes de Mathématique et Automatique Musicales (CEMAMu) und den Studios für elektronische Musik des WDR in Köln aufgenommen hatte. Die siebenspurige Komposition war Teil eines nahezu hypnotisierenden Szenarios aus Musik, Laserstrahlen und eindringlichen Blitzlichtern, die im Inneren des Pavillons Diatope mittels drehbarer und fester Spiegel reflektiert und vervielfacht wurden. Der Pavillon stand 1978 vor dem Pariser Centre Pompidou zu dessen Einweihung und zog ein Jahr später für ein halbes Jahr nach Bonn um. Hier wie dort zog er scharenweise Besucher:innen an, die das 46 Minuten lange Event auf dem Boden liegend oder sitzend erlebten.

Diatope zählt zur Serie der Polytopes, in denen Xenakis eine Art Utopie der totalen Kunst verwirklichte. In den 1970ern hatte er sogar den Polytope mondial (Welt-Polytope) entwickelt, der die Menschen durch Licht und Ton über die Ozeane hinweg miteinander verbinden sollte. Das blieb freilich Vision, ebenso wie seine Kosmische Stadt mit ihren fünf Kilometer hohen Gebäuden, die 25 Millionen Menschen beherbergen und die natürliche Umwelt schützen sollten.

La Légende d’Eer erfüllt im Wechsel mit dem mitreißenden Schlagzeugstück Persephassa von Zeit zu Zeit für einige Minuten die Ausstellungszenerie. Trotzdem wird schnell klar, dass das modisch gewordene Wort ›immersiv‹, das in der Ausstellungsankündigung in Bezug auf Xenakis‘ Werk und die Ausstellung gebraucht wird, nichts mit den immersiven Events zu tun hat, die in den letzten Jahren überall auftauchen. Dies ist kein Zuckerguss aus buntem Farb-, Duft- und Melodiekitsch, der den Künstler Xenakis mit Pomp, Pathos und antihistorischen Klischees überziehen würde. Dem in Kennerkreisen üblichen Dünkel gegenüber Multimediaspektakel haben die Ausstellungsmacher jedoch auch widerstanden. Zum Glück! Sonst hätten wir es mit einer der vielen stummen Komponisten- und Klangkünstlerausstellungen zu tun, die nur in der musealen Gebärde der Besichtigung erfahren werden können.

Révolutions Xenakis umfasst viele Formen des Ausdrucks. Auf diese Weise werden die alle Sinne stimulierenden Dimensionen in Xenakis‘ Werken ebenso lebendig wie sein nomadischer Werdegang und seine intellektuelle Breite. Neben zwanzig Musik- und Architekturwerken werden über zweihundert Originaldokumente und -objekte gezeigt.

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